Cassandra
La Monnaie / De Munt

Cassandra

Foccroulle
Diese Vorstellung ist nicht mehr als Video auf unserer Plattform verfügbar. Sie können aber weiterhin das zusätzliche Material der Produktion nutzen.
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Gesungen auf
Englisch
Untertitel auf
Englisch
Französisch
Niederländisch

Sandra pendelt zwischen ihrer Forschung über abschmelzende Polkappen und Stand-up-Comedy hin und her. Sie ist beunruhigt über die Auswirkungen des menschlichen Handelns auf die Umwelt und möchte mit Humor das Bewusstsein dafür schärfen. Doch die Menschen um sie herum, sogar ihre eigene Familie, sind skeptisch. So wie Kassandra den Untergang Trojas vorhersagte, ohne beachtet zu werden, prophezeit Sandra das unmittelbare Herannahen einer schrecklichen Tragödie, doch niemand hört ihr zu.

Nach Heinrich VIII. von La Monnaie, einem bisher wenig bekannten Opernschatz von Camille Saint-Saëns, haben wir das Glück, eine Uraufführung live auf OperaVision zu erleben. Der belgische Komponist Bernard Foccroulle, ehemaliger Direktor von La Monnaie und dem Festival d'Aix-en-Provence, hat für seine erste Oper ein hochaktuelles Thema gewählt: ökologischer Aktivismus angesichts gesellschaftlicher Trägheit. Kassandras Prophezeiungen wurden zwar nicht beachtet, aber ihre Geschichte wird seit über zweitausend Jahren aufmerksam gelesen. Die trojanische Prophetin hat ihren Weg in das kollektive Bewusstsein durch einige der größten Schriftsteller der Literaturgeschichte gefunden: Seneca, Homer, Aischylos, William Shakespeare, Friedrich Schiller und Christa Wolf. Jede dieser Quellen wirft ein anderes Licht auf ihre Gabe und ihren Fluch, die im Mittelpunkt der Geschichte von Kassandra stehen, und diese unterschiedlichen Quellen haben Matthew Jocelyn zu seinem Libretto inspiriert. Dank der eindrucksvollen Musik unter der Leitung von Kazushi Ono und einem Bühnenbild, das uns abwechselnd in eine riesige Bibliothek, einen Bienenstock und das Herz eines Gletschers versetzt, verspricht Cassandra eine kraftvolle und poetische neue Oper zu werden.

BESETZUNG

Cassandra
Katarina Bradić
Sandra
Jessica Niles
Hecuba / Victoria
Susan Bickley
Naomi
Sarah Defrise
Blake
Paul Appleby
Apollo / Angry Audience Member
Joshua Hopkins
Priam / Alexander
Gidon Saks
Stage Manager / Marjorie
Sandrine Mairesse
Conference Presenter
Lisa Willems
Orchester
La Monnaie Symphony Orchestra
Chor
La Monnaie Chorus
...
Musik
Bernard Foccroulle
Text
Matthew Jocelyn
Dirigent
Kazushi Ono
Regie
Marie-Ève Signeyrole
Sets
Fabien Teigné
Kostüme
Yashi
Licht
Philippe Berthomé
Dramaturgie
Louis Geisler
Video
Marie-Ève Signeyrole
Artis Dzērve
Chorleitung
Emmanuel Trenque
Filmregie
Myriam Hoyer
...

Videos

Trailer

Sneak Peek: Cassandra

Eine Uraufführung um einen antiken Mythos, so aktuell wie nie.

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Ausschnitt

Abendessen mit der Familie

Sandra (Jessica Niles), ihre Eltern Victoria (Susan Bickley) und Alexander (Gidon Saks), ihre Schwester Naomi (Sarah Defrise) sowie Blake (Paul Appleby) kommen zusammen, um Victorias 55. Geburtstag zu feiern. Die Stimmung ist ausgelassen, die Gäste diskutieren über verschiedene Möglichkeiten, die Zukunft vorherzusagen, und die Sticheleien sind in vollem Gange. Doch Sandra gefällt es gar nicht, dass ihre wissenschaftliche Arbeit mit Wahrsagerei verglichen wird. Im Laufe der Diskussion kommt die Reise der Eltern in die Antarktis zur Sprache, die sie unternommen haben, um ihre Tochter zu besuchen, und der alarmierende Zustand des Kontinents. Alexander geht nicht auf Sandras Worte ein, die eine Katastrophe für die Polkappen ankündigen, sondern weist auf die Chancen hin, die das schmelzende Polareis für sein Fachgebiet bietet - insbesondere die Möglichkeit, neue Ressourcen zu erschließen... Schockiert über solche Äußerungen beschließen Sandra und Blake, wieder zu gehen. Die Ankunft der Geburtstagstorte hält sie jedoch zurück. Nachdem Victoria die Kerzen ausgeblasen hat, gelingt es Naomi endlich, zu verkünden, dass sie schwanger ist.

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Hinter den Kulissen

Eine Einführung zu Cassandra

Der Komponist Bernard Foccroulle stellt die verschiedenen „Welten“ und deren musikalische Begleitung seiner ersten Oper vor.

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Hinter den Kulissen

Frauen, die nicht gehört werden

Regisseurin Marie-Eve Signeyrole bringt Mythos und Modenität in Bernard Foccroulles erste Oper ‘Cassandra‘ zusammen, inspiriert von der unglücklichen trojanischen Prinzessin.

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HANDLUNG

PROLOG – Irgendwo weit weg
Menschengeister aus allen Zeiten lassen ihre Stimmen aus dem Nichts hören. Sie sprechen zu Kassandra, erinnern sich an ihre Raserei, ihre Prophezeiungen und den Fluch, der sie getroffen hat. Sie sehen Troja in Flammen stehen, wie sie es vorausgesagt hatte. Das war damals. Das ist jetzt.

ERSTE SZENE – Troja brennt, Kassandra sieht tzu
Hilflos muss Kassandra mit ansehen, wie Troja durch die Flammen zerstört wird. Als sie sieht, dass das eintritt, was sie angekündigt hatte, ohne gehört zu werden, schreit sie ihre Not heraus. Geht es nur um die Vergangenheit, geht es nicht auch um unsere Zukunft? Was war, was ist, was soll sein.

ZWEITE SZENE – Nennt mich Kassandra
Gegenwart. Sandra Seymour, eine Doktorandin der Klimatologie, beendet ein Klimasymposium mit einer Stand-up-Show, in der sie die Ergebnisse ihrer Forschung mit einer soliden Portion Humor vermittelt. Sie hofft, auf diese Weise ihr Publikum zum Handeln zu bewegen, was den Wissenschaftler:innen mit ihren trockenen Daten nicht gelingt. Das Publikum jubelt ihr zu, doch nach ihrem Auftritt wird sie hinter der Bühne von einem Aktivisten angegriffen: Wie könne sie über ein Thema wie die globale Erwärmung lachen? Es handelt sich um Blake, einen Studenten der klassischen Literatur. Trotz dieses heftigen Einstiegs knistert es sofort zwischen den beiden jungen Leuten.

DRITTE SZENE – Du spucktest mir in den Mund
Apollon hat Kassandra die Gabe verliehen, in die Zukunft zu sehen, aber als sie nicht auf seine Avancen reagiert, spuckt er ihr in den Mund: Niemand wird seinen Prophezeiungen glauben. Der Gott versucht erneut, die junge Frau zu verführen. Kassandra widersetzt sich ihm und verweist auf andere Frauen, die Apollon erobern wollte. Er verspottet sie: Glaubt sie, dass sie die Einzige ist, die "sehen" kann? Die Zukunft ist zum Greifen nah; jeder, der sie wirklich will, kann sie sehen. Kassandra wird von Trauer und Kummer geplagt.

VIERTE SZENE – Die Bienen (1)
Hunderte Bienen summen.

FÜNFTE SZENE – Ototoi popoi da*
*Klagelaut der Kassandra in Aischylos’ Textvorlage.
Ein Jahr ist vergangen, seit Sandra und Blake sich kennen und lieben gelernt haben. Jetzt leben sie zusammen und jeder von ihnen arbeitet an seiner Doktorarbeit: Sandra modelliert mithilfe von Algorithmen das Schmelzen der Polkappen in der Antarktis und seine Folgen; Blake studiert den Agamemnon von Aischylos. Während einer Diskussion zitiert Blake einen von Kassandra in dem Theaterstück geäußerten Ausdruck: Ototoi popoi da - ein Ausruf, der den unsäglichen Schrecken der Visionen der Prophetin wiedergibt. Obwohl ihre jeweiligen Bereiche sehr weit voneinander entfernt zu sein scheinen, stellen die jungen Forscher zahlreiche Übereinstimmungen zwischen ihnen fest. Wie Kassandras Vorhersagen werden auch Sandras Prognosen über die Klimakrise nicht gehört: Es sei ein prophetisches Lied, unwillkommen, aufdringlich. Die Diskussion wird durch das Klingeln des Telefons unterbrochen: Sandras Mutter lädt das Paar zu ihrer Geburtstagsfeier ein.

SECHSTE SZENE – Abendessen mit der Familie
Sandra, ihre Eltern Victoria und Alexander, ihre Schwester Naomi sowie Blake kommen zusammen, um Victorias 55. Geburtstag zu feiern. Die Stimmung ist ausgelassen, die Gäste diskutieren über verschiedene Möglichkeiten, die Zukunft vorherzusagen, und die Sticheleien sind in vollem Gange. Doch Sandra gefällt es gar nicht, dass ihre wissenschaftliche Arbeit mit Wahrsagerei verglichen wird. Im Laufe der Diskussion kommt die Reise der Eltern in die Antarktis zur Sprache, die sie unternommen haben, um ihre Tochter zu besuchen, und der alarmierende Zustand des Kontinents. Alexander geht nicht auf Sandras Worte ein, die eine Katastrophe für die Polkappen ankündigen, sondern weist auf die Chancen hin, die das schmelzende Polareis für sein Fachgebiet bietet - insbesondere die Möglichkeit, neue Ressourcen zu erschließen... Schockiert über solche Äußerungen beschließen Sandra und Blake, wieder zu gehen. Die Ankunft der Geburtstagstorte hält sie jedoch zurück. Nachdem Victoria die Kerzen ausgeblasen hat, gelingt es Naomi endlich, zu verkünden, dass sie schwanger ist.

SIEBTE SZENE – In der Bibliothek der Toten
Personen aus der Vergangenheit wandern in der Bibliothek der Toten umher. König Priamos liest immer wieder, was im Laufe der Geschichte über seinen Tod und den Untergang Trojas geschrieben wurde. Er wirft Kassandra vor, einen Fluch auf ihn und die Stadt gelegt zu haben, obwohl sie die bevorstehende Katastrophe nur angekündigt hatte. Hekuba setzt sich für ihre Tochter ein, und Priamos wird allmählich bewusst, dass Kassandras Worte kein Fluch waren, sondern das Gegenteil. Als sie allein in der Bibliothek zurückbleibt, wird die junge Frau von einer Vision überwältigt - von ihrem eigenen Tod? oder dem Tod eines anderen?

ACHTE SZENE – Verführerische Mutterschaft
Sandra und Blake sind zu Hause. Sie lieben sich, sind jedoch oft uneins. Als Blake sich bereit macht, für einen riskanten Öko-Einsatz in die Antarktis zu reisen, äußert er den Wunsch, mit Sandra ein Kind zu bekommen. Die junge Frau hat ein zwiespältiges Gefühl: Ist es vernünftig, in dieser Welt Leben zu schenken? Blake vertritt den Standpunkt, dass sie für eine bessere Welt kämpfen - die Welt ihrer Kinder. Tief in ihrem Inneren gibt Sandra zu, dass sie den Lockruf der Mutterschaft hört. Aber sie befürchtet, dass unsere Welt untergehen könnte.

NEUNTE SZENE – Die Bienen (2)
Fünfzehn Bienen summen.

ZEHNTE SZENE – Wiegenlied
Naomi singt dem Kind in ihrem Bauch ein Wiegenlied, ein Mädchen, die Alexandra heißen soll.

ELFTE SZENE – Ein Boot auf dem Weg zur Antarktis
Sandra hat ihre Dissertation abgeschlossen und gibt ein letztes Mal ihre Show, allerdings in einer anderen Form. Der sehr ernste Ton, den sie darin anschlägt, kommt nicht bei allen Zuschauer:innen gut an. Es fliegen Schimpfwörter und Beleidigungen. Einige Leute verlassen den Saal. Sandra kündigt an, dass sie die akademische Welt und die Bühne verlassen wird, um Aktivistin zu werden, so wie Blake, der in die Antarktis reist. Ihre Eltern und ihre Schwester sind bei der Aufführung anwesend. Während der Vorstellung erhält Sandras Vater einen Anruf, in dem er erfährt, dass das Schiff, auf dem Blake war, gesunken ist. Nach der Vorstellung kommt die ganze Familie zu Sandra, um ihr die schreckliche Nachricht zu überbringen, und sie bricht zusammen. Naomis Fruchtblase platzt zur gleichen Zeit. Sandra ist allein. Kassandra erscheint ihr.

ZWÖLFTE SZENE – Keine wird mich jemals zum Schweigen bringen
Sandra begreift allmählich, dass sie sich in Kassandras Gegenwart befindet und dass ihre Schicksale miteinander verbunden sind. Kassandra, die so viel gelitten hat, scheint zu versuchen, Sandra zu trösten - sie weiß genau, was die junge Frau durchmacht. Bevor sie verschwindet, betont sie, dass es keinen Gott gibt, der Sandra in den Mund spuckt. Niemand wird sie also daran hindern, gehört zu werden.

DREIZEHNTE SZENE – Die Bienen (3)
Fünf Bienen summen. Sie haben kein Bewusstsein für das, was geschieht.

Marie Mergeay

EINBLICKE

Hören oder verschwinden: Kassandra, eine Tragödie des Zuhörens

Von Patrick Leterme


„Ach wie flüchtig, ach wie nichtig ist der Menschen Leben!
Wie ein NEBEL bald entstehet und auch wieder bald vergehet, so ist unser LEBEN, sehet!‟

— J.-S. Bach, „Ach wie flüchtig, ach wie nichtig‟, aus der Kantate BWV 26

„Wer will in einer Welt ohne Bach leben?‟ In Cassandra (2020-2022), Bernard Foccrolles erster Oper, die nach einem Libretto von Matthew Jocelyn komponiert wurde, bricht diese Frage während einer Klimakonferenz auf. Denn das Bach Ice Shelf (Bach-Eisschild) in der Antarktis, von dem man noch 2009 glaubte, dass es nicht von der globalen Erwärmung bedroht sei, hat seit jenem Jahr bereits 120 seiner 4.536 km2 verloren. Durch das potenzielle (und vorhersehbare) Verschwinden des Eisschildes in einigen Jahrzehnten wird metaphorisch das Schmelzen des Namens Bach skizziert, der als Inbegriff unseres gesamten kulturellen Erbes gilt. Bach, ein Name, der in den 1960er Jahren vom UK Antarctic Place-Names Committee gewählt wurde, um wie ein Leuchtturm, auf den die Menschheit stolz ist, über die Buchten Weber, Boccherini und Strawinsky, die Halbinseln Beethoven, Schostakowitsch und Monteverdi, die Gletscher Arensky und Glazunov, die Spitzen Berlioz und Rossini und den Gipfel Gluck zu strahlen.

Die Ortsnamen der Antarktis - eine erhabene Bibliothek toter Komponisten? Womöglich. Denn in Cassandra werden die Lebenden angesichts ihres verschlossenen Geistes manchmal toter als die Toten erscheinen. In Cassandra werden die Toten angesichts der Tragweite ihrer Vision und ihrer Werke manchmal lebendiger erscheinen als die Lebenden.

„Ach wie flüchtig, ach wie nichtig‟: Dieser am Ende der Oper zitierte Bach-Choral, der aus einigen Worten über die Vergänglichkeit und Eitelkeit des menschlichen Lebens besteht, erhält im Kontext der Dringlichkeit des Librettos, fürs Klima zu handeln, eine neue Bedeutung: Der Text scheint sich hier auf das Leben der gesamten Menschheit auszudehnen, auf das „menschliche Abenteuer‟, wie es der Philosoph Edgar Morin nennt. Es ist nicht das Leben eines einzelnen Menschen, sondern das gesamte menschliche Leben, das sich im Maßstab der wenigen Milliarden Jahre, die die Erde existiert, als sehr kurz erweisen könnte. In der ökologischen Tragödie Cassandra sind Bienen und Eisblöcke Symbole für einen Planeten, der auf dem Weg ist, für den Menschen unbewohnbar zu werden... von einer Spezies, für die er die Matrix und die einzige mögliche Heimat ist.

Genau hier liegt einer der dramaturgischen und musikalischen Schwerpunkte von Cassandra: die Resonanz des natürlichen und kulturellen Erbes der Menschheit, aber auch der Vergangenheit und der Gegenwart - diese Resonanz ermöglicht einen Ausblick auf eine Zukunft, für die man sich entscheiden kann. Die Gegenüberstellung von Autor:innen aus der Vergangenheit und unserer unmittelbaren Erfahrung in der Gegenwart lässt ein neues Relief entstehen. Eine dreidimensionale Perspektive, die den kritischen Abstand einer weiten Zeit mit der direkten Handlungsfähigkeit der Gegenwart verbindet.

In seiner Oper The Rake's Progress brachte Strawinsky zum ersten Mal zwei nicht aufeinanderfolgende Epochen zusammen: die des Mozart-Klassizismus (Ende des 18. Jahrhunderts) und seine eigene (Mitte des 20. Jahrhunderts). Dieses überraschende musikalische Rezept war die Essenz seiner gesamten neoklassischen Schaffensperiode. Bernard Foccroulle, von der Überzeugung vom Reichtum des Dialogs zwischen den Jahrhunderten getragen (aus musikalischen und kulturellen, auch philosophischen Gründen, bevor er die rein ästhetischen Konsequenzen zieht), hat bereits noch weiter reichende Spagate praktiziert: In E vidi quattro stelle (2020) für Sopran, Bariton und Ensemble scheint Dantes 14. Jahrhundert dem 21. die Hand zu reichen.

Cassandra geht noch einen Schritt weiter und schlägt eine Brücke von 26 Jahrhunderten zwischen dem antiken Griechenland des Aischylos und unserer globalisierten Welt. Diese Dualität zeigt sich auch in den Berufen der beiden Hauptfiguren: Blake ist Experte für klassische Sprachen und Literatur; Sandra ist Klimaforscherin.

Die mythologischen Szenen, in einer von unserem zeitgenössischen Alltag abgekoppelten Energie, sind in einem breiten Zeitrahmen komponiert. Die Blechbläser (wie auch in E vidi quattro stelle, oben zitiert) erklingen in einem ruhigen, Monteverdi-artigen Schweben. Wenn Priamos eintritt (Szene VII - In der Bibliothek der Toten), verstärken das Tam-Tam und die Gongs noch die Feierlichkeit der Musik einer prächtigen Szene, die durch das Spiel mit den Gesetzen der Physik und die Überlagerung von Momenten, die in unserer Realität niemals nebeneinander existieren, ihre ganze dramatische Tiefe offenbart. Hinter den Solostimmen der Gottheiten lässt die Harfe ein paar Noten schweben, einen schlichten Begleitungscharakter, wie ihn die ersten Harfen und Leiern in der Antike praktiziert haben (Szene III - Du hast mir in den Mund gespuckt). Wenn es um die Zerstörung Trojas geht, wird die Perkussion wild und dionysisch (Szene I - Troja brennt, Kassandra schaut zu).

Die Szenen, die in unserer Zeit spielen, stehen in einem deutlich "realeren", lebhafteren und konkreteren Takt. Das Marimba deutet hier Sandras sprühende Dynamik an; das Altsaxophon schlängelt sich zwischen den Stimmen hindurch, wenn sich die Liebe zwischen Blake und Sandra hindurchschlängelt.

Der Chor hingegen wird seiner Bezeichnung als griechischer Chor im wahrsten Sinne des Wortes gerecht. Als Schnittstelle zwischen der Handlung und dem Publikum beobachtet und kommentiert er. Da er körperlos ist, ist er emotional involviert, ohne jedoch aktiv in die Szenen eingreifen zu können, und wird zu einer Art spiritueller und kollektiver Einheit. Ist dieser Chor die Masse der Menschen (die allzu blinde und schweigende Mehrheit, die hören könnte, wenn sie wirklich wollte)? Ist er das Fluidum des kollektiven menschlichen Abenteuers, die Lebensenergie, die es durchdringt und nicht zu ihm gehört? Ist er die spirituelle Dimension, die der Menschheit derzeit in ihrer Beziehung zur Umwelt fehlt? Ist er der kritische Blick, der es ihr ermöglicht, aus ihrem Schlummer zu erwachen? Oder ein bisschen von allem zugleich?

Rocks, bees und Climate Action Group: Für den Librettisten Matthew Jocelyn und Bernard Foccroulle bot sich Englisch als Sprache an. Weil es die Muttersprache des Ersteren ist, aber auch, weil Englisch rhythmisch und prägnant ist, mit einer reichen und vielfältigen, alternierenden Intonation, und weil es die natürliche Sprache der Aktivist:innen ist, die vor der größten Herausforderung einer globalisierten Welt stehen.

Die Orchestrierung von Bernard Foccroulle ist feinfühlig, zumeist leicht, und Teil einer ständigen Hinwendung zum Text. Darin steckt das Fachwissen eines ehemaligen Theaterdirektors, dessen feines Gehör mit den sehr entscheidenden Fragen des Gleichgewichts zwischen Gesang und Orchester konfrontiert wurde, die sich bei bestimmten Werken stellen können, auch bei den großen Meisterwerken des weltweiten Opernrepertoires.

Die Tragödie unserer Zeit besteht darin, dass ein vorhersehbares Drama nicht unbedingt auch vorher erhöhrt werden muss. Matthew Jocelyn und Bernard Foccroulle wollten Cassandra weder zu einer Debatte über Ideen (die das Genre der Oper überhaupt nicht gebraucht hätte) noch zu einem militanten Werk machen. Aber in ihrer dramatischen Verankerung, in der Liebe zur Natur und zur Kultur, die sie verrät, ruft ihre Oper auf vibrierende Weise dazu auf, unsere beiden wertvollsten Vermächtnisse zu bewahren.

Könnte Bernard Foccroulle in einer Welt ohne Bach leben? Wir bezweifeln das. Aber getreu einer musikalischen Reflexion, die unermüdlich den geografischen (die Musik der verschiedenen Völker der Welt) und den zeitlichen Raum (die Jahrhunderte des musikalischen Repertoires) durchschreitet, verliebt in die schönsten Hinterlassenschaften unserer Zivilisation, stellt er die Frage nicht an sich selbst, sondern an die Epochen und Generationen, die ihm vorausgehen, ihn umgeben und ihm folgen.

Er scheint uns, Bach paraphrasierend, sagen zu wollen: So ist unser Leben… höret!